Eine Stadt mitten in der Wüste, Goldsucher, Prostituierte, Kriminelle, ein Hurrikan – wie in einem bösen Wild-West-Märchen vom Kapitalismus erscheint die Welt in Mahagonny. Brecht und Weill verzerren unsere Wirklichkeit, damit sie besser kenntlich werde: Was dem geraden Blick nicht gelingt, erreicht vielleicht der schiefe. So verwandeln sie ökonomische Krisen in Wirbelstürme und zeigen Unternehmer als Verbrecher. Die Liebe ist immer auch Prostitution und das größte Verbrechen ist – ganz klar – kein Geld zu haben. Mahagonny meint nicht den Ausnahmezustand, den Exzess oder die Entgleisung einer Gesellschaft, sondern ihren ideologisch verstellten Normalzustand.
»Etwas fehlt« legt Brecht seinem Antihelden Jim Mahoney in den Mund, bevor dieser ein neues Gesetz verkündet: »Vor allem aber achtet scharf, dass man hier alles dürfen darf!« Saufen bis zum Umfallen, Fressen bis zum Tod und Sex bis man wund ist. »Etwas fehlt« – was für Ernst Bloch in dem legendären Gespräch mit Theodor W. Adorno über »Die Möglichkeiten der Utopie heute« Ausdruck aufkeimenden utopischen Bewusstseins ist, wird in Mahagonny zum Beweis für die Fähigkeit des Kapitalismus, Sehnsüchte und Bedürfnisse nach Freiheit systemstabilisierend zu integrieren. Die Freiheit als Karikatur ihrer selbst.
Weills Musik ist dabei mitreißend, schillernd und verführerisch, so wie es auch die Verhältnisse sind: Abstoßend und geil zugleich wie die Gassenhauerzeile »Und wenn einer tritt, dann bin ich es«. Ja, es macht Spaß in Mahagonny, solange man [noch] mitspielen darf… »Oh show me the way to the next whisky bar«, heißt es im Alabama Song.
Doch mittlerweile haben die Alltagserfahrung Mahagonnys Geschichte vom Wilden Westen an Absurdität sogar überboten: Mit deren Forderungen etwa, „Für die ungerechte Verteilung der irdischen Güter!“ „Für die Freiheit der reichen Leute!“ sind heute reale demokratische Wahlen zu gewinnen. In den von der Finanzkrise erschütterten Staaten werden Teile der Bevölkerung gemolken und ausgeblutet wie Jim Mahoney, der in Mahagonny seine Schulden nicht begleichen kann und hingerichtet wird. Wie soll man auf diese reale Zuspitzung anders als reagieren als mit der üblichen Ratlosigkeit und Bestürzung? Michael v. zur Mühlens Inszenierung holt diese offene Frage auf die Bühne, genauer in eine Reminiszenz der Frankfurter Paulskirche, dem paradigmatischen Ort bundesdeutscher Selbsverständigung. Hier findet eine Trauerfeier für all’ die Hoffnungen auf ein anderes Zusammenleben statt, die der Wirbelsturm der Geschichte inzwischen mit sich gerissen hat- zwischen Staatsakt und Reality Show, zwischen politischer Agitation und Yoga-Meditation. Auf das eine neue Lust entbrenne, den Verhältnissen mit der Wasserpistole zu drohen!
Mit: Leokadja Begbick Svitlana Slyvia / Jasmin Etezadzadeh (26.2., 19.5.), Fatty, der »Prokurist« Philipp Werner, Dreieinigkeitsmoses Ki-Hyun Park, Jenny Hill Ines Lex, Jim Mahoney Ralph Ertel / Hans-Georg Priese (15.4.), Jack O'Brian Robert Sellier, Bill, Sparbüchsenbill Franz Xaver Schlecht, Joe, genannt »Alaskawolfjoe« Vladislav Solodyagin
Poleposition im Weltzerstörungsrennen
Michael von zur Mühlen inszeniert an der Oper Halle Brechts und Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ als Requiem auf den Kapitalismus
"[...] Von zur Mühlen verzichtet darauf, Brechts und Weills Oper zu illustrieren. Es gibt keine Wüstenstadt, keinen Western, keine Cowboys. Stattdessen ein Requiem auf den Kapitalismus. Gemeinsam mit den Zuschauern betritt der Chor den Saal, dunkle Kleidung, je eine Urne in der Hand. Die Sänger sitzen in den ersten Reihen, der Bühne zugewandt, wo auf einem Podest das Orchester platziert ist – die Maschinerie wird ausgestellt und nicht im Orchestergraben versteckt, ein Blick ins moderne Weltgetriebe. Das Podest ist umgeben von einer weißen antikisierenden Kulisse, ein Bildungstempel, der sich beim näheren Hinschauen als Aufbau aus Schaumstoff erweist, der Montageschaum quillt aus den Fugen, vorn ein leicht erhöhtes Pult vor Marmorfassade, das entfernt an das Rednerpult der UN-Generalversammlung erinnert. „Erheben Sie sich bitte.“ Kurzes Zögern im Publikum, alsbald folgt ein großer Teil der Aufforderung. Vorgetragen wird Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“, eine Mahnung an die finsteren Zeiten. Es geht auch um Trauerarbeit, einen illusionslosen Blick auf die Gegenwart. [...]"
Jakob Hayner | Theater der Zeit | Mai 2017
Trauer und Traute
"[...] Diese Inszenierung ist mutig und geht an die Substanz. Sie gelingt wegen des leidenschaftlichen Einsatzes des gesamten Ensembles. Nicht nur, dass
die klanglich beinahe perfekt aufeinander abgestimmten Solisten vokal ein erstaunliches Niveau erreichen, sie spielen ebenso bemerkenswert. Halle macht was. Halle traut sich was. Und die Botschaft, so scheint es, kommt an – gerade in einer Generation, die man in anderen Häusern vergeblich sucht."
Nora Sophie Kienast | Opernwelt | März 2017
Das Mahagonny-Requiem
"Auf die Idee muss man ja auch erst mal kommen: Bertolt Brechts und Kurt Weills dreiaktige kapitalismuskritische Opern-Orgie „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ als tränenerstickte Trauerfeier zu inszenieren. [...]Diese Sängerdarsteller machen das aber auch großartig. Sie balancieren hinreißend zwischen Parodie und Depression, machen aus jeder Kanzelrede mit Szenenanweisungen und Sprechtexten eine eigene kleine Nummer, springen von da aus wieder in ihre Rollen, extrem präsent, doch ohne je zu chargieren. Und alles penibel nach den Buchstaben des Textes, so dass die Brecht-Erben auch beim besten Willen nichts dagegen haben könnten, wenn sie denn wollten. Das ist ein total überrumpelnder, aber bezwingender Einstig an ein Werk, an dessen vordergründig tingeltangelnder Oberfläche schon so manche Inszenierung wirkungslos abgeglitten ist. [...]"
Detlef Brandenburg | Die Deutsche Bühne online
„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ feiert Premiere an der halleschen Oper
Im Gespräch mit dem Regisseur Michael von zur Mühlen und der Dramaturgin Jeanne Bindernagel geht es um die heutige Relevanz des Stückes und die aktuelle Inszenierung.
Radio Corax, 19. Januar 2017